
Sehende Kinder im Vorschulalter begegnen der Schrift in den unterschiedlichsten Alltagssituationen und können den einen oder anderen Buchstaben bereits lesen oder schreiben, bevor sie zur Schule gehen. Sehbehinderte Kinder haben diesen beiläufigen Schriftkontakt nicht und sind deshalb in ihrem Lernprozess schon früh auf eine spezifisch ausgestattete Umgebung angewiesen. Barrierefreiheit sollte deshalb schon früh und in allen Lebensbereichen Eingang finden.
Dieser Meinung ist auch das Projektteam von «Punkt, Punkt, Komma, Strich» (PPKS), angeführt von Fabienne Meyer, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Andreas Netthoevel, Dozent für visuelle Kommunikation und Forschungsprofessor an der Hochschule der Künste Bern. Es setzt sich deshalb seit 2010 mit Lernszenarien von sehbehinderten Kindern im Vorschulalter auseinander und verfolgt mit PPKS das Ziel, eine wissenschaftlich abgestützte Kinderbuchreihe zu entwickeln, die einen spielerischen Kontakt mit der Brailleschrift ermöglicht und für jedermann erschwinglich ist. Neben dem Gestalter Martin Gaberthüel wird das Team von den blindenpädagogischen Experten Prof. Dr. Markus Lang und Prof. Frank Leamers der Pädagogischen Hochschule Heidelberg ergänzt. Finanzielle Unterstützung gab es zu Beginn vom Schweizerischen Nationalfonds, später von der Gebert-Rüf- und der Ernst-Göhner-Stiftung, von der Burgergemeinde Bern sowie von Migros-Kulturprozent. Intern wurde das Projekt vom BFH-Zentrum Arts in Context begleitet und unterstützt.
Nichts dergleichen
Als Fabienne Meyer und Andreas Netthoevel anfingen, Gespräche mit Institutionen aus dem Blinden- und Sehbehindertenbereich zu führen, Informationen zusammenzutragen und bestehendes Lernmaterial zu sichten, merkten sie schnell, dass es bisher kaum ein Lehrmittel gab, das es sich zum Ziel gesetzt hatte, an die Brailleschrift heranzuführen und gleichzeitig das sehende Umfeld miteinzubeziehen. «Diese Erkenntnis war einerseits traurig», sagt Andreas Netthoevel, «andererseits war sie für uns als Forschende aber auch ein Glücksfall». Mit anderen Worten: Sie entdeckten eine Nische, die es zu besetzen galt, und es entstand ein Projekt, an dem das Team über Jahre hinweg mit viel Freude, Lust und Elan arbeiten konnte.
Heute steckt PPKS in seiner Endphase. Zwei evaluierte Prototypen gibt es bereits, drei weitere stehen kurz vor dem Abschluss. Bis Ende 2019 sollen insgesamt neun Bände vorliegen. Zeitgleich laufen Gespräche mit Verlagen, die als Herausgeber in Frage kommen könnten. In ganz trockenen Tüchern liegt das Projekt aber trotzdem noch nicht, denn für die Umsetzung der letzten vier Prototypen sind die Wissenschaftler auf weitere Geldquellen angewiesen.
Eine Herzensangelegenheit
Auch wenn die Geldsuche oder ein fehlendes gemeinsames Büro die Arbeit am Projekt verlangsamte und teils schwierig gestaltete, sind Fabienne Meyer und Andreas Netthoevel die Überzeugung und das Herzblut für dieses Projekt ins Gesicht geschrieben: Es sei bis heute etwas vom Sinnvollsten, das sie in ihrem beruflichen Leben gemacht hätten. Angewandte Wissenschaft, die wirklich etwas bringe.
Zusammen haben die beiden von der Idee, über die Recherchearbeit bis hin zum Verfassen der Geschichten und der gestalterischen Umsetzung der Prototypen viel investiert. Immer wieder mussten Ideen oder Teile der Umsetzung verworfen werden, weil die Evaluation mit den sehbehinderten Kindern zeigte, dass das Geplante zu viel, zu kompliziert oder nicht präzis genug umgesetzt war. Die Geschichten mussten – allein, weil die Brailleschrift breiter läuft als unsere «normale» Schrift – immer wieder aufs Wesentlichste reduziert werden. Und auch «hübsche» gestalterische Elemente waren nicht gefragt. Die Buchreihe sollte funktionieren, nicht nur schön aussehen.
Dass Funktionalität, Einfachheit und Anmut aber in keinem Widerspruch zueinanderstehen müssen, zeigt sich im Resultat. Die bereits vorhandenen Prototypen der Kinderbuchreihe mit dem Protagonisten Alex – einem einfachen Braille-Punkt, der seine Leserinnen und Leser mit auf Abenteuerreise nimmt – sind hochwertige und ansprechend gestaltete Produkte. Vom gewählten Papier bis zur Seitengestaltung ist alles aufeinander abgestimmt. Und nicht nur das…
Sehende und Nicht-Sehende
Ein ganz zentraler Aspekt bei der Erarbeitung der Prototypen und dem Forschungsteam ein grosses Anliegen war es nämlich, auch das sehende Umfeld von sehbehinderten Kindern miteinzubeziehen. So steht unter jedem Braille-Wort die Übersetzung in die Schrift der Sehenden, es wird mit Farben gearbeitet und immer auf der hintersten Seite gibt es eine Art Anleitung mit Übungen für die ganze Familie, die weit über das Buch hinausgehen.
Wunschszenario der Zukunft wäre es denn auch, dass der Braille-Punkt Alex nebst der Erreichung von Blindenschulen und -Institutionen, auch seinen Weg in die Stubenregale der unterschiedlichsten, privaten Familien findet. Denn nicht zuletzt erhielten alle – unabhängig davon ob sehend oder nicht – in der Auseinandersetzung mit dem Thema die grossartige Chance, den eigenen Blickwinkel zu verändern und zu lernen andere Perspektiven einzunehmen, sagt Fabienne Meyer.
Ein Projekt, das begeistert
Dass das Projekt einer tollen Sache nachgeht, zur Auseinandersetzung mit wichtigen Fragen anregt und berührt, zeigt sich gemäss Andreas Netthoevel und Fabienne Meyer immer wieder an den Reaktionen der Leute. Es überrascht denn auch nicht, dass sich die diesjährige Jury des Swiss Innovation Forum überzeugen liess und «Punkt, Punkt, Komma, Strich» einlud, sich am 22. November 2018 in Basel zu präsentieren.